1. Weltkrieg 1914 - 1918


Wenn man ringsum den Kanonendonner hört..."

 

Tagebuch eines badischen Soldaten des I. Weltkrieges

Thomas Adam, Bruchsal

Der folgende Text, der an dieser Stelle* erstmals veröffentlicht wird, besitzt einen besonderen historischen Wert. Es handelt sich um das wortgetreu wiedergegebene Tagebuch eines vermutlich aus Baden-Baden oder Rastatt in Baden stammenden deutschen Soldaten des I. Weltkrieges, der als Angehöriger der 4. oder 6. deutschen Armee seit Oktober 1914 beim Kampf in Belgien nahe der Nordsee an der französischen Grenze eingesetzt war und, so lassen die Tagebucheintragungen schließen, bereits einen Monat später, vermutlich am Sonntag, dem 22. November 1914, bei Ausschachtungsarbeiten an Schützengräben fiel. Das 75 Jahre alte Tagebuch zwingt seinen Leser, den Krieg „von unten" zu betrachten: nicht vom eleganten Tisch der Befehlshaber aus, sondern aus dem Blickwinkel derjenigen, für die das Ziel eines Krieges nicht in hehren nationalistischen Idealen oder politischen Wahnvorstellungen liegt — sondern allein darin, zu überleben. Nach der Lektüre der knapp fünfundvierzig, mit Bleistift geschriebenen Seiten des kleinen Tagebuches beschränkt sich Geschichtswissen nicht mehr länger auf Kenntnisse um Geschehen in der Obersten Heeresleitung; hier werden Soldaten zu Hauptdarstellern. 

Anmerkung: Runde Klammern ( ) im Text des Tagebuches stammen von der Hand des unbekannten Soldaten; eckige Klammern [ ] wurden vom Herausgeber für weiterführende Erläuterungen gesetzt. Die z. T. eigenwillige Rechtschreibung und Grammatik wurde originalgetreu beibehalten.

Tagebuchtext
13. Oktober 1914
Bahnhofswache von 8—1.28h. Ausfahrt 1.28 Fahrt über Schwetzingen Friedrichsfeld. Wenig Schlag, unbequeme Sitzgelegenheit. Gute Stimmung der Mannschaft. Liebesgaben an Bahnhöfen sehr viel und von netten Leuten, tadelloses Wetter wunderschöne Landschaft.
14. Oktober 1914
Von 7 ½ h morgens in Heppenheim Wagenwache bezogen bis 12h mittags. Eingetroffen an 12 Uhr in Bingerbrück. Mittagessen tadelloses Wetter. Rheinstrom grossartig. Abfahrt 1 ½ Uhr [13.30 h] nach Remagen.
15. Oktober
Nachts bei Ulfingen über Luxembourgische Grenze, von da nach Gouvy in Belgien. Erste grössere Station Bastogne. Bevölkerung zum Teil vorhanden. Kleine Mädchen verkaufen am Bahnhof Cigaretten etc. Auf der Strecke lagen einige zerbrochene verbrannte Eisenbahnwagen. Auf dem Bahnhof Bastogne lag ein deutscher Panzerzug. Bei Morhet Zugentgleisung eines vorausfahrenden Zuges. Nachts durch Namur [Namen].
16. Oktober 1914
Morgens durch Tamines, Aisseau [richtig: Aiseau, nahe Charleroi]; Orte stark zerschossen. Bevölkerung verkauft Chokolade, Cigaretten etc. Durch Bahnhofsbeamte kauften wir belgischen Rotwein. Alles in tadelloser Stimmung. Jetzt gehts nach der Französischen Grenze. Charleroi durchfahren, Bahnen etc alles in tadelloser deutscher Verwaltung. Ausladen in Grammont [Geerardsber-gen], abends Nachtmarsch nach Everbeke [richtig: Everbeek].
17. Oktober 1914
Quartier Everbeke. Nette Leute tadellose Verpflegung, alles flämisch. Bis morgens 5 Uhr Caffee. Abmarsch nach Brück [vermutlich ist Nederbrakel gemeint]. Nachts 2 Stunden nach Quartier gesucht. Wieder sehr nette Leute.
18. Oktober 1914
Abmarsch von Brück an 5 Uhr nachmittags. Nachtfahrt; in Oudenaarde [Audenarde] durchkommend bis Zulte. Ankunft 2V2 h Nachts. Massenquartier in der Reitbahn und Wohnung eines Rennpferdtrainers. Ebenfalls alles flämisch; Bewohner sehr entgegenkommend.
19. Oktober 1914
Abmarsch von Zulte gegen 9 ½ h morgens, fast alles im Trab. Unterwegs alles mit durchfahrenden Colonnen etc besetzt.
20. Oktober 1914
Ankunft in [Angabe fehlt]. Im Freien auf dem Acker übernachtet. Morgens Abfahrt Roulers [Roeselare]. In Roulers sehr viel zerschossen + verbrannt da Franctireur [auch: Francs-tireurs, franz. Freischützen, die im Rücken der Deutschen Partisanenkrieg führten] 11 deutsche Soldaten nachts in den Quartieren ermordet hatten. Abmarsch von [unleserlich] morgens 9 Uhr nach der Front.
21. Oktober
Da Auftrag hatte verschiedene Colonnen zur Befehlsabholung zu veranlassen, so kam zu spät zum Abmarsch. Wir gingen zu FUSS, verfehlten aber den Weg und kamen statt nach Morlede [Moorsiede] nach Oostnieuwkerke. Dort wurden wir vom Stab veranlasst mit einem Proviant-Transport nach der ersten Artillerie-Staffel zu fahren, ausserhalb des Ortesbekamen wir aber bereits Skrapnellfeuer, so dass umkehren mussten, fuhren dann über Roulers nach Morslede und fanden dort unsere Colonne, wo schon als vermisst galten. In Morlede entluden wir am 22. unsere Munition, da dort in der Nähe seit dem Morgen eine Schlacht im Gang war. Es wurde am 224-23 heftig gekämpft in der Nähe brennt .alles. Die ganze Nacht vom 22/23 standen wir bereit weitere Munition abzugeben. Gegen 5 Uhr morgens am 22. rückten wir ab um neue Munition zu holen. Der Kampf dauert nun schon 2 Tage. Deutscherseits kämpfte bisher 1. Freiwilligen Armeekorps, während auf der engl. Seite ca. 2. Korps im Einsatz waren. Verstärkung soll bereits eingetroffen sein. [Vom 17. Oktober bis Ende November 1914 rannte das 27. deutsche Reservekorps bei Zonnebeke, dem östlichsten Punkt des sogenannten Ypernbogens, erfolglos gegen die Briten an. Erst im Juni 1915 wurde das umkämpfte Gebiet von der 4. Armee genommen.]
22. Oktober
Abmarsch nach Courtrai [Kortrijk] für Munition.
23. Oktober 1914
Nachts Ankunft in Courtrai. Auf dem Wagen übernachtet, da Munition noch nicht eingetroffen. Grössere hübsche Stadt. Da Munition noch nicht eingetroffen haben wir heute wieder bei [Madame] Jacques übernachtet. Eine sehr nette Frau, die uns auch Abendessen bereitet. Vor allen Dingen schmeckt mir der Caffee + die Tartin [Käse?] Portion ä 20 Cts (sehr billig.) Die Stadt hat in den Hauptstrassen ziemlich stark französischen Charakter.
24. Oktober
Ganzen Tag Ruhe. Beim Secretair des Bürgermeisters die Logierzettel geordnet. In Courtrai konnten keine Munition erhalten.
25. Oktober 1914
Abfahrt an 10 ½ h. Auf einer kleinen Station ungefähr 10—15 Kilometer von Courtrai Munitionsempfang. Dort am Bahnhof Eintreffen von grossen Verwundeten Transporten von der jetzt bereits 7 Tage dauernden Schlacht bei Zoonbeke [Zonnebeke]. Weiterfahrt bis zur leichten Colonne Nachts 8—9 Uhr. In unserem Wagen Nr. 19 ab fuhren wir dann Nachts mit der leichten Colonne bis auf ca. 800—1000 meter an unsere Batterien. Das Feuer war sehr stark. Es regnete andauernd; alles vollkommen durchnässt. Unterwegs bei der Fahrt durch die Felder und Gräben fiel ein Fahrzeug in den Graben + eines fuhr in eine Hecke. Bis l Uhr hatten wir zu tun. An 2 Uhr waren wir wieder in Roulers und suchten uns zu Dritt ein Quartier, wo wir früh schliefen.
26. Oktober
Kaffee beim Quartierwirt, dann noch in einer kleinen Gastwirtschaft, Mittags Fleisch + Reisabkochen bei sehr netten Leuten, die ich ausfindig machte. Mittags kam ein feindlicher Flieger über die Stadt und warf 5 Bomben; es wurden l Mann (Belgier) getötet, einer verletzt + 3 Frauen ebenfalls. Mittagessen bei sehr netten Frauen; haben für alle gekocht und hübsch gedeckt. Von abends 6 Uhr bis 27ten 6 Uhr Wache, als Strafe für Quartiermachen. Mittags am 27. erschien abermals Flieger, warf Bombe aber ohne Resultat. Nachts geschlafen im Stall.
27. Oktober
Am 27 Morgens Abmarsch nach Oostnieuwkerke von da Marsch nach Norden bis Bahnstation Lichtervelde, eine nette kleine Stadt. Vollständig von Deutschen besetzt. Die Strasse von Roulers nach Lichtervelde ist eine wunderbare gerade Allee, die ca 15 km vollständig gerade läuft. Abends warf ein Flieger Leuchtkügelchen. Ankunft Abends gegen 8 Uhr. Quartier in einem sehr guten Stall vis a vis dem Bahnhof. In der Stadt ist sonst sehr viel Pferdehandel, daher lauter gute Ställe. Brot, Zucker, Chokolade + Cigaretten, wie fast überall vollständig ausverkauft. Vormittags am Bahnhof Munitionsempfang, dann Abmarsch nach Oostnieuwkerke über Roulers. Nachmittags bis Abends Munitionsabgabe an die leichte Colonne. Die Schlacht dauert nun schon seit 10 Tagen. Nacht Quartier in Oostnieuwkerke.
30. Oktober
Morgens den 30. gegen 7 Uhr brannte unweit von uns ein ganzer Stall eines Gehöftes durch Umstossen einer Petroleumlampe ab. Die Nacht von 29 auf 30. hatte ich Wache am Nordausgang von Oostnieuwkerke. Am 30. und 31. blieben wir in Oostnieuwkerke an beiden Tagen ereignete sich nichts Besonderes.
31. Oktober
Am 31. war Löhnungsapell. Seit einigen Tagen kommen auf der Strasse nach Oostnieuwkerke immer Infanterie Verstärkungen an. Heute ist der 12 Schlachttag und man hofft, dass die Entscheidung in den aller nächsten Tagen fallen muss. Die Verwundeten Transporte die hier passieren sind sehr gross, die Lazarette in Roulers etc. sind vollkommen überfüllt, sodass die Verletzten möglichst nach Deutschland per Bahn abtransportiert werden. Ein Verwundeter, Infanterist aus Bonn, dem wir in unserem Quartier Brod + Caffee gaben, erzählte, dass es draussen schrecklich ist und dass viele beim Essenholen verwundet werden, wie er auch selbst. Es sollen nach seiner Aussage am 29 und 30. ca 7000 Franzosen gefangen genommen worden sein. Die französische Artillerie soll grossartig schiessen, dagegen die Infanterie schlecht.
1. November 1914, Sonntag, Allerheiligen 
Heute sind wir immer noch im Quartier in Oostnieuwkerke. Die Artillerie schiesst schon seit gestern Nacht direct Schnellfeuer mit allen Kalibern. Die Österreichischen Motorbatterien sollen auch da sein. Ausserdem ist eine deutsche Marinedividion am Kampf beteiligt. Ich glaube dass es heute zur Entscheidung kommt. Nachmittags hatten wir Ziel-Übungen mit dem neue Carabiner; was einem ganz komisch anmutet, wenn man ringsum den Kanonnendonner hört und die Verwundeten Transporte sieht. Seit einigen Tagen zeigen sich sehr viele Flieger auf die Artillerie kräftig schiesst. Diese Granaten platzen oft unmittelbar über unserem Wagenplatz. 
2. November
Vorläufig liegen wir noch immer hier in Oostnieuwkerke im Quartier und hatten heute verschiedene Apelle mit Mantel etc. Heute Nachmittag erhielt unser Major das eiserne Kreuz. Als Auszeichnung vor dem Feind kann man es nicht betrachten da wir noch nie direct im Feuer gewesen sind. Am 2. 11. bekam ich wahrscheinlich infolge des schlechten Wassers Diarrhö [Durchfall], die sehr heftig auftrat. Als ich in der Nacht vom 2. auf 3. in den Schöft [Wagenhalle] nebenan, wo der andere Wagen unseres Zuges liegt und wo ich seit dem 2. schlafe, auf die Toilette ging, die vorne am Haus liegt, erschien einePatrouille, da sie meinte, es handle sich um einen Franctireur. Die Wache erzählte mir, dass in der Nacht auf einquartierte Soldaten geschossen sei und dass 4 Franctireur verhaftet seien.
3. November 1914
Am 3. war mein Unwohlsein glücklicherweise wieder soweit vorüber. Wir blieben heute immer noch am selben Ort. Die Truppen sind im Centrum und anscheinend auch auf den Flügeln vorgerückt. Die allgemeine Lage der Schlacht wird günstig beurteilt. Nachts schlief ich wieder wie am vorhergehende Tage im Stall des 20ten Wagen. Gegen 11 Uhr glaubte unser Stangenreiter [Bedeutung des Wortes unklar; vermutl. militärischer Ausdruck] Bühler einen Mann auf dem Schöft gesehen zu haben. Trotz abpatroullieren fanden wir aber nichts; dagegen begegneten wir aber 2 Geschützen 15 cm der schweren Artillerie, die von Roulers als Ersatz abgeholt worden waren. Die Leute (Landwehr) sagten, dass die Belagerung von Antwerpen gegen die jetzige Schlacht in Westflandern ein Kinderspiel gewesen sei. Sie waren bei Lüttich, Namur [Namen] etc. dabei gewesen. Sie glauben, dass der Kampf noch 2—3 Tage dauern wird. Es sollen wieder 12 000 Franzosen gefangen sein. Kleinere Trupps wurden gestern hier durchgebracht.
4. November
Die Colonne hatte an 9 Uhr angespannt; aber abgerückt wurde nicht. Nach Vergrabung einer crepierten Kuh wurde im Quartier Mittag gekocht. Abends Apell, dann eine ungestörte Nacht.
5. November 1914
Morgens musste unser Zug anspannen, dann Mittagessen; nachmittags empfingen unser Zug und 3 weitere Wagen Munition aus Automobilen, die wir sofort nach Calve [Landkarte verzeichnet Ort nicht; nach späterer Aussage des Tagebuchschreibers nahe Passendale bei Moorsiede] zur Abgabe an die leichte Colonne brachten. Auf der Rückfahrt am gleichen Nachmittag warf ein feindlicher Flieger 2 Bomben auf uns ab. Die eine ging ungefähr 30 meter von unserem Wagen entfernt in den Boden ohne weiteren Schaden anzurichten. Unsere Pferde scheuten natürlich wegen des kolossale Knalles und die Wagen wurden trotzdem sie fuhren, stark erschüttert. Als wir wieder in Oostnieuwkerke auf dem Standplatz unserer Colonne ankamen, erfuhren wir, dass unser Kanonier Fehrenbach durch eine Bombe von dem gleichen Flieger getötet worden sei. Die Bombe war ungefähr 150 meter von dem Wagen, auf dem F. sass, entfernt in den Boden gefahren und war hauptsächlich in seitlicher Richtung explodiert; einige Stückchen sind aber anscheinend in der Richtung der Wagen geflogen und so wurde der Mann getötet. Als wir ankamen lag er auf der Erde und die beiden gerufenen Ärzte constatierten gerade, dass der Tod sofort eingetreten sei. Die Wunde, die ich mir ansah, war nicht sehr gross, scheint aber das Herz oder die Lunge durchbohrt zu haben.
6. November
Um 11 Uhr fand die Beerdigung statt, an der sämtliche Offiziere und alle freien Mannschaften teilnahmen. Ich war gerade mit dem Zuwerfen von Strassengräben nach unserem Standplatz auf dem Felde beschäftigt, damit bei Übernahme von Munition die Wagen eine bessere Auf und Abfahrt haben. Sonst tagsüber nichts von Bedeutung. Beim 5 Uhr Apell erhielt ich einige Karten aus Baden + ein Paketchen mit Conserven ferner einen Brief aus Hamburg, der bereits am 13. 10. nach Rastatt gegangen war. Nachts und den darauffolgenden Tag hatte ich Dorfwache in Oostnieuwkerke.
7. November
Am 7ten Abends + Nachts als Befehlsempfänger.
8. November
Sonntag. Nichts von Bedeutung. Vormittags und in der darauffolgenden Nacht Durchmarsch von Verstärkung; einige Infanterie Regimenter + Feldartillerie, die hauptsächlich aus Verdun kamen, da dort die Einschliessung vollständig ist und ein grosser Teil des Forts gefallen sein soll. Nachmittags haben wir die Strasse im Ort ausgebessert. Abends fuhr unser Zug ohne uns ab. Nachts gegen 8 Uhr kam er wieder zurück. Anscheinend bleiben wir noch lange in Oostnieuwkerke. Abends war ich beim Unteroffiziers-Befehlsempfang und nahm die Post in Empfang.
9. November
Um 10 war Carabiner Apell, vorher war ich auf Befehlsempfang; nach dem Apell auch wieder. Da kam ein Freiwilligen Infanterist, der uns erzählte, dass die freiwilligen Regimenter durch die aus Verdun gekommenen Regimenter ersetzt worden sind, bis zum Sturmangriff, der jeden Tag erfolgen könnte. Abends kam ich auf Wache, diese war sehr angenehm, da wir nur im Ganzen ca 4 Stunden standen. Nachts hatte ein Teil der Colon-ne Munition gefahren und zwar nach Calve. [siehe 5. November]
10. November
Als ich morgens in unser Quartier kam, hiess es, dass wir abrücken müssten. Gegen Mittag rückten wir ab; vorher ass ich noch gekochtes Huhn und Hühnersuppe, die unsere Eeute am Abend vorher gekocht haben. Nachmittags kamen wir dann in Koekuit [es ist nicht Koekuit nördlich Eangemark, sondern Koekuithoek westlich Moorsiede gemeint] an und müssten in dem Walde, der zum Schloss gehört übernachten auf Stroh, ringsum die angebundenen Pferde. Geschlafen habe ich sehr schlecht, da es mich sehr an die Füsse fror.
11. November
Morgens kochten wir Caffée bei den Leuten, deren Tochter hinten ins Buch geschrieben hat. [Gemeint sind kindliche Schriftzüge auf den hinteren Umschlagseiten des Tagebuches.] Sie war sehr lebhaft und nett und wir haben uns gut unterhalten. Wir blieben hier 5 Tage im Walde bei fast andauerndem Regen + Schnee. Aus Stroh bauten wir uns eine Hütte, die wir dann später mit Segeltuch überzogen. Der Aufenthalt im Walde war wegen der Feuchtigkeit nicht angenehm, auch mussten wir meistenteils im Freien abkochen, was immer viel Zeit erforderte, weil das Wasser herbeigeholt werden musste. Allerdings hatten wir auch einige gute Tage, da wir Obst und Zucker kaufen konnten und uns Milchreis mit Compott (Birnen) machen konnten. Hie und da kochten wir auch bei der Martha Niyten [Eigenname]. Munition haben wir während dieser Zeit wenig gefahren, da die Feldkanonen wenig geschossen haben, sondern nur die mittlere und schwere Artillerie.
15. November [bis 20. November]
Heute rückten wir bei sehr schmutzigem Wetter nach der Bahnstation Roulers od. Rousselare [Roeselare] um Munition zu holen. Diese kommt jetzt regelmässig am Quaigeleise [Kaigleis; durch Roulers fließt die Mandel, die bei Ooigem in die Leie mündet] dort an. Als wir ankamen, war keine Munition da. Wir kochten ab bei einer netten, armen Familie und sollten in einer Fabrik übernachten. Mittags kam aber wieder der Befehl zum Abrücken. Wir fuhren ohne Munition nach Koekuit oder Castel Hoek zurück und trafen dort gegen 6 Uhr wieder bei dem Schlösschen an. Dieses gehört dem Herrn Abrik de Kussmaker. Ich hatte gleich nach Eintreffen Parkwache. Wir bezogen Quartier in den Stallungen des Schlosses. Gegen 10V2 Nachts wurden wir wieder geweckt und fuhren nach Beythen [bei Rumbeke südlich von Roulers]. Hier kamen wir gegen Mitternacht an und fuhren morgens wieder nach Roulers wegen Munition. Unser Stammquartier blieb nun Beythen. Von hier aus fuhr unsere Kolonne immer mit 4—6 Wagen nach Roulers holten Munition und brachte diese nach Calve [siehe 5. November], das in der Nähe von Passchendacle [Passendale] liegt. Bei letzterem Ort befinden sich auch ein Teil unserer Schützengräben, um die schon seit Wochen hartnäckig gekämpft wird. Unser Zug fuhr auch ein paar Mal von Beythen nach Roulers und zurück mit Munition, die anfangs von der leichten Colonne in Beythen abgeholt wurde. In Beythen hatten wir ein nettes Quartier bei einem Tischler namens [Leander] Cools. Sein Häuschen liegt ca 25 Minuten von unserem Sammelplatz entfernt. Die Leute hauptsächlich der Mann sind sehr nett zu uns. Dieser spült unser Geschirr, stellt morgens Caffeewasser auf etc. Dagegen ist die Frau sehr schmutzig, unter anderem hat sie einmal um unseren Esstisch zu putzen auf denselben gespuckt. Schmutzig sind die Leute hier in Flandern überhaupt. Die Kinder laufen sehr schmutzig mit ungekämmten Haaren auf der Strasse umher; ich habe sogar gesehen dass in Roulers oder Rousselare die Frauen sich auf der Strasse frissiert haben. Da wir wenig Munition bekamen, so hatten wir wenig zu tun, und es wurden dafür Apelle in Kleidung, Waffen etc angesetzt, wie dies auch bei anderen Truppenteilen namentlich bei der Infanterie, die auf einige Tage aus den Schützengräben abgelöst ist, an der Tagesordnung ist. Die Fahrer d. h. die Reiter hatten dann fast täglich Pferdebewegen oder Pferdeapelle oder Besichtigung der kranken Pferde.
Samstag, 21. November 1914
Heute kam der Befehl, dass von allen Munitionskolonnen die Kannoniere bis nachmittags um 3 Uhr zur Besetzung von Schützengräben marschbereit sein sollten und sich um 5 Uhr in Passchendacle zu melden hätten. Es wurde nun gesagt, dass wir wahrscheinlich nur in einen Reserve Graben hinter der Front als Reserve kommen sollten. Statt dessen ka-men wir aber in den aller ersten Graben, der von feindlichen Schützengraben stellenweise nur 20 meter entfernt war, so dass man das Sprechen hören konnte. Wir marschierten also nachmittags gegen 3 Uhr unter Führung von einem Offiziersstellvertreter über Koe-kuit, Morslede nach Passchendacle. Unterwegs trafen wir die Kannoniere von den anderen Colonnen. Kurz vor Morslede, das jetzt fast nur noch ein verlassener Trümmerhaufen ist, passierte uns eine Ballonabwehr-Kannone. Gegen 6 Uhr trafen wir in Passchendacle ein das ebenfalls fast vollständig zerstört ist. Hauptsächlich die Umgebung der Kirche sowie diese selbst hat stark gelitten. Bei Dunkelheit wurden wir dann auf dem Bahndamm entlang an die Laufgräben, die zu den Schützengräben führen, herangebracht. Es wurde im Gänsemarsch gegangen und das Sprechen war verboten. Bald bekamen wir auch Gewehrfeuer aus nächster Nähe zu hören und nach wenigen Minuten, als wir an das Bahnwärterhäuschen gelangt waren, wo die Laufgräben beginnen bekamen wir auch vereinzelt Gewehrfeuer. Dann ging's in die Gräben unter lautloser Stille hinein und teilweise aufrecht, teilweise gebückt oder bei gedeckten Durchgängen auf allen Vieren gelangten wir in den ersten Schützengraben. Es war das reinste Labyrinth von Gängen, die meistens über Mannshöhe auf beiden Seiten also Hinten und Vorne ausgeworfen waren. Unterwegs wurden uns von Hand zu Hand Spaten gegeben, mit welchen wir nachts die Gräben weiter ausgraben sollten. Wir wurden 10—20 Mann weise auf die Infanterie Compagnien verteilt, so kam ich zur ersten Compagnie. Wir fingen gleich an zu graben. Die feindliche Infanterie schoss die ganze Nacht ohne Unterbrechung, während auf unserer Seite nur ab und zu von den Posten hinter den Schutzschildern geschossen wurde, wenn sich drüben einer blicken liess. Sonst war das Feuer untersagt. Die feindlichen Geschosse schlugen dauernd ...

 

Hier endet das Tagebuch. Die Schilderung der Umstände läßt darauf schließen, daß der unbekannte Schreiber zu dieser Stunde den Tod fand.

*Abgedruckt:
Badische Heimat 69 (1989) S. 93 - 102
 

im Detail:

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siehe auch:

"Stilles Heldentum"
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