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Tagebuch eines badischen
Soldaten des I. Weltkrieges
Thomas Adam, Bruchsal |
Der
folgende Text, der an dieser Stelle* erstmals veröffentlicht
wird, besitzt einen besonderen historischen Wert. Es handelt
sich um das wortgetreu wiedergegebene Tagebuch eines vermutlich
aus Baden-Baden oder Rastatt in Baden stammenden deutschen Soldaten
des I. Weltkrieges, der als Angehöriger der 4. oder 6. deutschen
Armee seit Oktober 1914 beim Kampf in Belgien nahe der Nordsee
an der französischen Grenze eingesetzt war und, so lassen
die Tagebucheintragungen schließen, bereits einen Monat
später, vermutlich am Sonntag, dem 22. November 1914, bei
Ausschachtungsarbeiten an Schützengräben fiel. Das
75 Jahre alte Tagebuch zwingt seinen Leser, den Krieg von
unten" zu betrachten: nicht vom eleganten Tisch der Befehlshaber
aus, sondern aus dem Blickwinkel derjenigen, für die das
Ziel eines Krieges nicht in hehren nationalistischen Idealen
oder politischen Wahnvorstellungen liegt sondern allein
darin, zu überleben. Nach der Lektüre der knapp fünfundvierzig,
mit Bleistift geschriebenen Seiten des kleinen Tagebuches beschränkt
sich Geschichtswissen nicht mehr länger auf Kenntnisse um
Geschehen in der Obersten Heeresleitung; hier werden Soldaten
zu Hauptdarstellern.
Anmerkung:
Runde Klammern ( ) im Text des Tagebuches stammen von der
Hand des unbekannten Soldaten; eckige Klammern [ ] wurden
vom Herausgeber für weiterführende Erläuterungen
gesetzt. Die z. T. eigenwillige Rechtschreibung und Grammatik
wurde originalgetreu beibehalten. |
Tagebuchtext
- 13. Oktober
1914
- Bahnhofswache
von 81.28h. Ausfahrt 1.28 Fahrt über Schwetzingen
Friedrichsfeld. Wenig Schlag, unbequeme Sitzgelegenheit.
Gute Stimmung der Mannschaft. Liebesgaben an Bahnhöfen
sehr viel und von netten Leuten, tadelloses Wetter wunderschöne
Landschaft.
- 14. Oktober
1914
- Von 7 ½ h
morgens in Heppenheim Wagenwache bezogen bis 12h mittags.
Eingetroffen an 12 Uhr in Bingerbrück. Mittagessen
tadelloses Wetter. Rheinstrom grossartig. Abfahrt 1 ½ Uhr
[13.30 h] nach Remagen.
- 15. Oktober
- Nachts bei Ulfingen über
Luxembourgische Grenze, von da nach Gouvy in Belgien. Erste
grössere Station Bastogne. Bevölkerung zum Teil
vorhanden. Kleine Mädchen verkaufen am Bahnhof Cigaretten
etc. Auf der Strecke lagen einige zerbrochene verbrannte
Eisenbahnwagen. Auf dem Bahnhof Bastogne lag ein deutscher
Panzerzug. Bei Morhet Zugentgleisung eines vorausfahrenden
Zuges. Nachts durch Namur [Namen].
- 16. Oktober
1914
- Morgens durch
Tamines, Aisseau [richtig: Aiseau, nahe Charleroi]; Orte
stark zerschossen. Bevölkerung verkauft Chokolade,
Cigaretten etc. Durch Bahnhofsbeamte kauften wir belgischen
Rotwein. Alles in tadelloser Stimmung. Jetzt gehts nach
der Französischen Grenze. Charleroi durchfahren, Bahnen
etc alles in tadelloser deutscher Verwaltung. Ausladen
in Grammont [Geerardsber-gen], abends Nachtmarsch nach
Everbeke [richtig: Everbeek].
- 17. Oktober
1914
- Quartier Everbeke.
Nette Leute tadellose Verpflegung, alles flämisch.
Bis morgens 5 Uhr Caffee. Abmarsch nach Brück [vermutlich
ist Nederbrakel gemeint]. Nachts 2 Stunden nach Quartier
gesucht. Wieder sehr nette Leute.
- 18. Oktober
1914
- Abmarsch von
Brück an 5 Uhr nachmittags. Nachtfahrt; in Oudenaarde
[Audenarde] durchkommend bis Zulte. Ankunft 2V2 h Nachts.
Massenquartier in der Reitbahn und Wohnung eines Rennpferdtrainers.
Ebenfalls alles flämisch; Bewohner sehr entgegenkommend.
- 19. Oktober
1914
- Abmarsch von
Zulte gegen 9 ½ h morgens, fast alles im Trab. Unterwegs
alles mit durchfahrenden Colonnen etc besetzt.
- 20. Oktober
1914
- Ankunft in [Angabe
fehlt]. Im Freien auf dem Acker übernachtet. Morgens
Abfahrt Roulers [Roeselare]. In Roulers sehr viel zerschossen
+ verbrannt da Franctireur [auch: Francs-tireurs, franz.
Freischützen, die im Rücken der Deutschen Partisanenkrieg
führten] 11 deutsche Soldaten nachts in den Quartieren
ermordet hatten. Abmarsch von [unleserlich] morgens 9 Uhr
nach der Front.
- 21. Oktober
- Da Auftrag hatte
verschiedene Colonnen zur Befehlsabholung zu veranlassen,
so kam zu spät zum Abmarsch. Wir gingen zu FUSS, verfehlten
aber den Weg und kamen statt nach Morlede [Moorsiede] nach
Oostnieuwkerke. Dort wurden wir vom Stab veranlasst mit
einem Proviant-Transport nach der ersten Artillerie-Staffel
zu fahren, ausserhalb des Ortesbekamen wir aber bereits
Skrapnellfeuer, so dass umkehren mussten, fuhren dann über
Roulers nach Morslede und fanden dort unsere Colonne, wo
schon als vermisst galten. In Morlede entluden wir am 22.
unsere Munition, da dort in der Nähe seit dem Morgen
eine Schlacht im Gang war. Es wurde am 224-23 heftig gekämpft
in der Nähe brennt .alles. Die ganze Nacht vom 22/23
standen wir bereit weitere Munition abzugeben. Gegen 5
Uhr morgens am 22. rückten wir ab um neue Munition
zu holen. Der Kampf dauert nun schon 2 Tage. Deutscherseits
kämpfte bisher 1. Freiwilligen Armeekorps, während
auf der engl. Seite ca. 2. Korps im Einsatz waren. Verstärkung
soll bereits eingetroffen sein. [Vom 17. Oktober bis Ende
November 1914 rannte das 27. deutsche Reservekorps bei
Zonnebeke, dem östlichsten Punkt des sogenannten Ypernbogens,
erfolglos gegen die Briten an. Erst im Juni 1915 wurde
das umkämpfte Gebiet von der 4. Armee genommen.]
- 22. Oktober
- Abmarsch nach
Courtrai [Kortrijk] für Munition.
- 23. Oktober
1914
- Nachts Ankunft
in Courtrai. Auf dem Wagen übernachtet, da Munition
noch nicht eingetroffen. Grössere hübsche Stadt.
Da Munition noch nicht eingetroffen haben wir heute wieder
bei [Madame] Jacques übernachtet. Eine sehr nette
Frau, die uns auch Abendessen bereitet. Vor allen Dingen
schmeckt mir der Caffee + die Tartin [Käse?] Portion ä 20
Cts (sehr billig.) Die Stadt hat in den Hauptstrassen ziemlich
stark französischen Charakter.
- 24. Oktober
- Ganzen Tag Ruhe.
Beim Secretair des Bürgermeisters die Logierzettel
geordnet. In Courtrai konnten keine Munition erhalten.
- 25. Oktober
1914
- Abfahrt an 10 ½ h.
Auf einer kleinen Station ungefähr 1015 Kilometer
von Courtrai Munitionsempfang. Dort am Bahnhof Eintreffen
von grossen Verwundeten Transporten von der jetzt bereits
7 Tage dauernden Schlacht bei Zoonbeke [Zonnebeke]. Weiterfahrt
bis zur leichten Colonne Nachts 89 Uhr. In unserem
Wagen Nr. 19 ab fuhren wir dann Nachts mit der leichten
Colonne bis auf ca. 8001000 meter an unsere Batterien.
Das Feuer war sehr stark. Es regnete andauernd; alles vollkommen
durchnässt. Unterwegs bei der Fahrt durch die Felder
und Gräben fiel ein Fahrzeug in den Graben + eines
fuhr in eine Hecke. Bis l Uhr hatten wir zu tun. An 2 Uhr
waren wir wieder in Roulers und suchten uns zu Dritt ein
Quartier, wo wir früh schliefen.
- 26. Oktober
- Kaffee beim
Quartierwirt, dann noch in einer kleinen Gastwirtschaft,
Mittags Fleisch + Reisabkochen bei sehr netten Leuten,
die ich ausfindig machte. Mittags kam ein feindlicher Flieger über
die Stadt und warf 5 Bomben; es wurden l Mann (Belgier)
getötet, einer verletzt + 3 Frauen ebenfalls. Mittagessen
bei sehr netten Frauen; haben für alle gekocht und
hübsch gedeckt. Von abends 6 Uhr bis 27ten 6 Uhr Wache,
als Strafe für Quartiermachen. Mittags am 27. erschien
abermals Flieger, warf Bombe aber ohne Resultat. Nachts
geschlafen im Stall.
- 27. Oktober
- Am 27 Morgens
Abmarsch nach Oostnieuwkerke von da Marsch nach Norden
bis Bahnstation Lichtervelde, eine nette kleine Stadt.
Vollständig von Deutschen besetzt. Die Strasse von
Roulers nach Lichtervelde ist eine wunderbare gerade Allee,
die ca 15 km vollständig gerade läuft. Abends
warf ein Flieger Leuchtkügelchen. Ankunft Abends gegen
8 Uhr. Quartier in einem sehr guten Stall vis a vis dem
Bahnhof. In der Stadt ist sonst sehr viel Pferdehandel,
daher lauter gute Ställe. Brot, Zucker, Chokolade
+ Cigaretten, wie fast überall vollständig ausverkauft.
Vormittags am Bahnhof Munitionsempfang, dann Abmarsch nach
Oostnieuwkerke über Roulers. Nachmittags bis Abends
Munitionsabgabe an die leichte Colonne. Die Schlacht dauert
nun schon seit 10 Tagen. Nacht Quartier in Oostnieuwkerke.
- 30. Oktober
- Morgens den
30. gegen 7 Uhr brannte unweit von uns ein ganzer Stall
eines Gehöftes durch Umstossen einer Petroleumlampe
ab. Die Nacht von 29 auf 30. hatte ich Wache am Nordausgang
von Oostnieuwkerke. Am 30. und 31. blieben wir in Oostnieuwkerke
an beiden Tagen ereignete sich nichts Besonderes.
- 31. Oktober
- Am 31. war Löhnungsapell.
Seit einigen Tagen kommen auf der Strasse nach Oostnieuwkerke
immer Infanterie Verstärkungen an. Heute ist der 12
Schlachttag und man hofft, dass die Entscheidung in den
aller nächsten Tagen fallen muss. Die Verwundeten
Transporte die hier passieren sind sehr gross, die Lazarette
in Roulers etc. sind vollkommen überfüllt, sodass
die Verletzten möglichst nach Deutschland per Bahn
abtransportiert werden. Ein Verwundeter, Infanterist aus
Bonn, dem wir in unserem Quartier Brod + Caffee gaben,
erzählte, dass es draussen schrecklich ist und dass
viele beim Essenholen verwundet werden, wie er auch selbst.
Es sollen nach seiner Aussage am 29 und 30. ca 7000 Franzosen
gefangen genommen worden sein. Die französische Artillerie
soll grossartig schiessen, dagegen die Infanterie schlecht.
- 1. November
1914, Sonntag, Allerheiligen
- Heute sind wir
immer noch im Quartier in Oostnieuwkerke. Die Artillerie
schiesst schon seit gestern Nacht direct Schnellfeuer mit
allen Kalibern. Die Österreichischen Motorbatterien
sollen auch da sein. Ausserdem ist eine deutsche Marinedividion
am Kampf beteiligt. Ich glaube dass es heute zur Entscheidung
kommt. Nachmittags hatten wir Ziel-Übungen mit dem
neue Carabiner; was einem ganz komisch anmutet, wenn man
ringsum den Kanonnendonner hört und die Verwundeten
Transporte sieht. Seit einigen Tagen zeigen sich sehr viele
Flieger auf die Artillerie kräftig schiesst. Diese
Granaten platzen oft unmittelbar über unserem Wagenplatz.
- 2. November
- Vorläufig
liegen wir noch immer hier in Oostnieuwkerke im Quartier
und hatten heute verschiedene Apelle mit Mantel etc. Heute
Nachmittag erhielt unser Major das eiserne Kreuz. Als Auszeichnung
vor dem Feind kann man es nicht betrachten da wir noch
nie direct im Feuer gewesen sind. Am 2. 11. bekam ich wahrscheinlich
infolge des schlechten Wassers Diarrhö [Durchfall],
die sehr heftig auftrat. Als ich in der Nacht vom 2. auf
3. in den Schöft [Wagenhalle] nebenan, wo der andere
Wagen unseres Zuges liegt und wo ich seit dem 2. schlafe,
auf die Toilette ging, die vorne am Haus liegt, erschien
einePatrouille, da sie meinte, es handle sich um einen
Franctireur. Die Wache erzählte mir, dass in der Nacht
auf einquartierte Soldaten geschossen sei und dass 4 Franctireur
verhaftet seien.
- 3. November
1914
- Am 3. war mein
Unwohlsein glücklicherweise wieder soweit vorüber.
Wir blieben heute immer noch am selben Ort. Die Truppen
sind im Centrum und anscheinend auch auf den Flügeln
vorgerückt. Die allgemeine Lage der Schlacht wird
günstig beurteilt. Nachts schlief ich wieder wie am
vorhergehende Tage im Stall des 20ten Wagen. Gegen 11 Uhr
glaubte unser Stangenreiter [Bedeutung des Wortes unklar;
vermutl. militärischer Ausdruck] Bühler einen
Mann auf dem Schöft gesehen zu haben. Trotz abpatroullieren
fanden wir aber nichts; dagegen begegneten wir aber 2 Geschützen
15 cm der schweren Artillerie, die von Roulers als Ersatz
abgeholt worden waren. Die Leute (Landwehr) sagten, dass
die Belagerung von Antwerpen gegen die jetzige Schlacht
in Westflandern ein Kinderspiel gewesen sei. Sie waren
bei Lüttich, Namur [Namen] etc. dabei gewesen. Sie
glauben, dass der Kampf noch 23 Tage dauern wird.
Es sollen wieder 12 000 Franzosen gefangen sein. Kleinere
Trupps wurden gestern hier durchgebracht.
- 4. November
- Die Colonne
hatte an 9 Uhr angespannt; aber abgerückt wurde nicht.
Nach Vergrabung einer crepierten Kuh wurde im Quartier
Mittag gekocht. Abends Apell, dann eine ungestörte
Nacht.
- 5. November
1914
- Morgens musste
unser Zug anspannen, dann Mittagessen; nachmittags empfingen
unser Zug und 3 weitere Wagen Munition aus Automobilen,
die wir sofort nach Calve [Landkarte verzeichnet Ort nicht;
nach späterer Aussage des Tagebuchschreibers nahe
Passendale bei Moorsiede] zur Abgabe an die leichte Colonne
brachten. Auf der Rückfahrt am gleichen Nachmittag
warf ein feindlicher Flieger 2 Bomben auf uns ab. Die eine
ging ungefähr 30 meter von unserem Wagen entfernt
in den Boden ohne weiteren Schaden anzurichten. Unsere
Pferde scheuten natürlich wegen des kolossale Knalles
und die Wagen wurden trotzdem sie fuhren, stark erschüttert.
Als wir wieder in Oostnieuwkerke auf dem Standplatz unserer
Colonne ankamen, erfuhren wir, dass unser Kanonier Fehrenbach
durch eine Bombe von dem gleichen Flieger getötet
worden sei. Die Bombe war ungefähr 150 meter von dem
Wagen, auf dem F. sass, entfernt in den Boden gefahren
und war hauptsächlich in seitlicher Richtung explodiert;
einige Stückchen sind aber anscheinend in der Richtung
der Wagen geflogen und so wurde der Mann getötet.
Als wir ankamen lag er auf der Erde und die beiden gerufenen Ärzte
constatierten gerade, dass der Tod sofort eingetreten sei.
Die Wunde, die ich mir ansah, war nicht sehr gross, scheint
aber das Herz oder die Lunge durchbohrt zu haben.
- 6. November
- Um 11 Uhr fand
die Beerdigung statt, an der sämtliche Offiziere und
alle freien Mannschaften teilnahmen. Ich war gerade mit
dem Zuwerfen von Strassengräben nach unserem Standplatz
auf dem Felde beschäftigt, damit bei Übernahme
von Munition die Wagen eine bessere Auf und Abfahrt haben.
Sonst tagsüber nichts von Bedeutung. Beim 5 Uhr Apell
erhielt ich einige Karten aus Baden + ein Paketchen mit
Conserven ferner einen Brief aus Hamburg, der bereits am
13. 10. nach Rastatt gegangen war. Nachts und den darauffolgenden
Tag hatte ich Dorfwache in Oostnieuwkerke.
- 7. November
- Am 7ten Abends
+ Nachts als Befehlsempfänger.
- 8. November
- Sonntag. Nichts
von Bedeutung. Vormittags und in der darauffolgenden Nacht
Durchmarsch von Verstärkung; einige Infanterie Regimenter
+ Feldartillerie, die hauptsächlich aus Verdun kamen,
da dort die Einschliessung vollständig ist und ein
grosser Teil des Forts gefallen sein soll. Nachmittags
haben wir die Strasse im Ort ausgebessert. Abends fuhr
unser Zug ohne uns ab. Nachts gegen 8 Uhr kam er wieder
zurück. Anscheinend bleiben wir noch lange in Oostnieuwkerke.
Abends war ich beim Unteroffiziers-Befehlsempfang und nahm
die Post in Empfang.
- 9. November
- Um 10 war Carabiner
Apell, vorher war ich auf Befehlsempfang; nach dem Apell
auch wieder. Da kam ein Freiwilligen Infanterist, der uns
erzählte, dass die freiwilligen Regimenter durch die
aus Verdun gekommenen Regimenter ersetzt worden sind, bis
zum Sturmangriff, der jeden Tag erfolgen könnte. Abends
kam ich auf Wache, diese war sehr angenehm, da wir nur
im Ganzen ca 4 Stunden standen. Nachts hatte ein Teil der
Colon-ne Munition gefahren und zwar nach Calve. [siehe
5. November]
- 10. November
- Als ich morgens
in unser Quartier kam, hiess es, dass wir abrücken
müssten. Gegen Mittag rückten wir ab; vorher
ass ich noch gekochtes Huhn und Hühnersuppe, die unsere
Eeute am Abend vorher gekocht haben. Nachmittags kamen
wir dann in Koekuit [es ist nicht Koekuit nördlich
Eangemark, sondern Koekuithoek westlich Moorsiede gemeint]
an und müssten in dem Walde, der zum Schloss gehört übernachten
auf Stroh, ringsum die angebundenen Pferde. Geschlafen
habe ich sehr schlecht, da es mich sehr an die Füsse
fror.
- 11. November
- Morgens kochten
wir Caffée bei den Leuten, deren Tochter hinten
ins Buch geschrieben hat. [Gemeint sind kindliche Schriftzüge
auf den hinteren Umschlagseiten des Tagebuches.] Sie war
sehr lebhaft und nett und wir haben uns gut unterhalten.
Wir blieben hier 5 Tage im Walde bei fast andauerndem Regen
+ Schnee. Aus Stroh bauten wir uns eine Hütte, die
wir dann später mit Segeltuch überzogen. Der
Aufenthalt im Walde war wegen der Feuchtigkeit nicht angenehm,
auch mussten wir meistenteils im Freien abkochen, was immer
viel Zeit erforderte, weil das Wasser herbeigeholt werden
musste. Allerdings hatten wir auch einige gute Tage, da
wir Obst und Zucker kaufen konnten und uns Milchreis mit
Compott (Birnen) machen konnten. Hie und da kochten wir
auch bei der Martha Niyten [Eigenname]. Munition haben
wir während dieser Zeit wenig gefahren, da die Feldkanonen
wenig geschossen haben, sondern nur die mittlere und schwere
Artillerie.
- 15. November
[bis 20. November]
- Heute rückten
wir bei sehr schmutzigem Wetter nach der Bahnstation Roulers
od. Rousselare [Roeselare] um Munition zu holen. Diese
kommt jetzt regelmässig am Quaigeleise [Kaigleis;
durch Roulers fließt die Mandel, die bei Ooigem in
die Leie mündet] dort an. Als wir ankamen, war keine
Munition da. Wir kochten ab bei einer netten, armen Familie
und sollten in einer Fabrik übernachten. Mittags kam
aber wieder der Befehl zum Abrücken. Wir fuhren ohne
Munition nach Koekuit oder Castel Hoek zurück und
trafen dort gegen 6 Uhr wieder bei dem Schlösschen
an. Dieses gehört dem Herrn Abrik de Kussmaker. Ich
hatte gleich nach Eintreffen Parkwache. Wir bezogen Quartier
in den Stallungen des Schlosses. Gegen 10V2 Nachts wurden
wir wieder geweckt und fuhren nach Beythen [bei Rumbeke
südlich von Roulers]. Hier kamen wir gegen Mitternacht
an und fuhren morgens wieder nach Roulers wegen Munition.
Unser Stammquartier blieb nun Beythen. Von hier aus fuhr
unsere Kolonne immer mit 46 Wagen nach Roulers holten
Munition und brachte diese nach Calve [siehe 5. November],
das in der Nähe von Passchendacle [Passendale] liegt.
Bei letzterem Ort befinden sich auch ein Teil unserer Schützengräben,
um die schon seit Wochen hartnäckig gekämpft
wird. Unser Zug fuhr auch ein paar Mal von Beythen nach
Roulers und zurück mit Munition, die anfangs von der
leichten Colonne in Beythen abgeholt wurde. In Beythen
hatten wir ein nettes Quartier bei einem Tischler namens
[Leander] Cools. Sein Häuschen liegt ca 25 Minuten
von unserem Sammelplatz entfernt. Die Leute hauptsächlich
der Mann sind sehr nett zu uns. Dieser spült unser
Geschirr, stellt morgens Caffeewasser auf etc. Dagegen
ist die Frau sehr schmutzig, unter anderem hat sie einmal
um unseren Esstisch zu putzen auf denselben gespuckt. Schmutzig
sind die Leute hier in Flandern überhaupt. Die Kinder
laufen sehr schmutzig mit ungekämmten Haaren auf der
Strasse umher; ich habe sogar gesehen dass in Roulers oder
Rousselare die Frauen sich auf der Strasse frissiert haben.
Da wir wenig Munition bekamen, so hatten wir wenig zu tun,
und es wurden dafür Apelle in Kleidung, Waffen etc
angesetzt, wie dies auch bei anderen Truppenteilen namentlich
bei der Infanterie, die auf einige Tage aus den Schützengräben
abgelöst ist, an der Tagesordnung ist. Die Fahrer
d. h. die Reiter hatten dann fast täglich Pferdebewegen
oder Pferdeapelle oder Besichtigung der kranken Pferde.
- Samstag, 21.
November 1914
- Heute kam der
Befehl, dass von allen Munitionskolonnen die Kannoniere
bis nachmittags um 3 Uhr zur Besetzung von Schützengräben
marschbereit sein sollten und sich um 5 Uhr in Passchendacle
zu melden hätten. Es wurde nun gesagt, dass wir wahrscheinlich
nur in einen Reserve Graben hinter der Front als Reserve
kommen sollten. Statt dessen ka-men wir aber in den aller
ersten Graben, der von feindlichen Schützengraben
stellenweise nur 20 meter entfernt war, so dass man das
Sprechen hören konnte. Wir marschierten also nachmittags
gegen 3 Uhr unter Führung von einem Offiziersstellvertreter über
Koe-kuit, Morslede nach Passchendacle. Unterwegs trafen
wir die Kannoniere von den anderen Colonnen. Kurz vor Morslede,
das jetzt fast nur noch ein verlassener Trümmerhaufen
ist, passierte uns eine Ballonabwehr-Kannone. Gegen 6 Uhr
trafen wir in Passchendacle ein das ebenfalls fast vollständig
zerstört ist. Hauptsächlich die Umgebung der
Kirche sowie diese selbst hat stark gelitten. Bei Dunkelheit
wurden wir dann auf dem Bahndamm entlang an die Laufgräben,
die zu den Schützengräben führen, herangebracht.
Es wurde im Gänsemarsch gegangen und das Sprechen
war verboten. Bald bekamen wir auch Gewehrfeuer aus nächster
Nähe zu hören und nach wenigen Minuten, als wir
an das Bahnwärterhäuschen gelangt waren, wo die
Laufgräben beginnen bekamen wir auch vereinzelt Gewehrfeuer.
Dann ging's in die Gräben unter lautloser Stille hinein
und teilweise aufrecht, teilweise gebückt oder bei
gedeckten Durchgängen auf allen Vieren gelangten wir
in den ersten Schützengraben. Es war das reinste Labyrinth
von Gängen, die meistens über Mannshöhe
auf beiden Seiten also Hinten und Vorne ausgeworfen waren.
Unterwegs wurden uns von Hand zu Hand Spaten gegeben, mit
welchen wir nachts die Gräben weiter ausgraben sollten.
Wir wurden 1020 Mann weise auf die Infanterie Compagnien
verteilt, so kam ich zur ersten Compagnie. Wir fingen gleich
an zu graben. Die feindliche Infanterie schoss die ganze
Nacht ohne Unterbrechung, während auf unserer Seite
nur ab und zu von den Posten hinter den Schutzschildern
geschossen wurde, wenn sich drüben einer blicken liess.
Sonst war das Feuer untersagt. Die feindlichen Geschosse
schlugen dauernd ...
Hier
endet das Tagebuch. Die Schilderung der Umstände
läßt darauf schließen, daß der
unbekannte Schreiber zu dieser Stunde den Tod fand.
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*Abgedruckt:
Badische Heimat 69 (1989) S. 93 - 102 |
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