Goethe
in Rom
Rom, den 1. November 1786.
Endlich kann ich den Mund auftun
und meine Freunde mit Frohsinn begrüßen. Verziehen sei mir
das Geheimnis und die gleichsam unterirdische Reise hierher.
Kaum wagte ich mir selbst zu sagen, wohin ich ging, selbst
unterwegs fürchtete ich noch, und nur unter der Porta del
Popolo war ich mir gewiß, Rom zu haben. Und laßt mich nun
auch sagen, daß ich tausendmal, ja beständig eurer gedenke
in der nähe der gegenstände, die ich allein zu sehen niemals
glaubte. Nur da ich jedermann mit leib und seele in norden
gefesselt, alle anmutung nach diesen gegenden verschwunden
sah, konnte ich mich entschließen, einen langen, einsamen
weg zu machen und den mittelpunkt zu suchen, nach dem mich
ein unwiderstehliches bedürfnis hinzog. Ja, die letzten
jahre wurde es eine art von krankheit, von der mich nur
der anblick und die gegenwart heilen konnte. Jetzt darf
ich es gestehen; zuletzt durft' ich kein lateinisch buch
mehr ansehen, keine zeichnung einer italienischen gegend.
Die begierde, dieses land zu sehen, war überreif: da sie
befriedigt ist, werden mir freunde und vaterland erst wieder
recht aus dem grunde lieb und die rückkehr wünschenswert,
ja um desto wünschenswerter, da ich mit sicherheit empfinde,
daß ich so viele schätze nicht zu eignem besitz und privatgebrauch
mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze leben
zur leitung und fördernis dienen sollen.
Rom, den 1. November 1786.
Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt
angelangt! Wenn ich sie in guter Begleitung, angeführt von
einem recht verständigen Manne, vor funfzehn Jahren gesehen
hätte, wollte ich mich glücklich preisen. Sollte ich sie
aber allein, mit eignen Augen sehen und besuchen, so ist
es gut, daß mir diese Freude so spät zuteil ward. Über das
Tiroler Gebirg bin ich gleichsam weggezogen. Verona, Vicenz,
Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig
und Florenz kaum gesehen. Die Begierde, nach Rom zu kommen,
war so groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, daß kein
Bleiben mehr war, und ich mich nur drei Stunden in Florenz
aufhielt. Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint,
auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl
sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen
sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume
meiner Jugend seh' ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder,
deren ich mich erinnere (mein Vater hatte die Prospekte
von Rom auf einem Vorsaale aufgehängt), seh' ich nun in
Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen,
Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange
gekannt, steht nun beisammen vor mir; wohin ich gehe, finde
ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt; es ist alles,
wie ich mir's dachte, und alles neu. Ebenso kann ich von
meinen Beobachtungen, von meinen Ideen sagen. Ich habe keinen
ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden,
aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend
geworden, daß sie für neu gelten können. Da Pygmalions Elise,
die er sich ganz nach seinen Wünschen geformt und ihr so
viel Wahrheit und Dasein gegeben hatte, als der Künstler
vermag, endlich auf ihn zukam und sagte: " Ich bin's!",
wie anders war die Lebendige als der gebildete Stein! Wie
moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz
sinnlichen Volke zu leben, über das so viel Redens und Schreibens
ist, das jeder Fremde nach dem Maßstabe beurteilt, den er
mitbringt. Ich verzeihe jedem, der sie tadelt und schilt;
sie stehn zu weit von uns ab, und als Fremder mit ihnen
zu verkehren, ist beschwerlich und kostspielig.
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