Fragt man
den "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki um seine Meinung, so
steht Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" ganz
oben in der Aufzählung des literarischen Kanons. Dass das überaus
erfolgreiche Werk bis heute zur Weltliteratur schlechthin zählt,
verdankt es auch der Tatsache, dass Goethe darin eigene, schmerzhafte
Erlebnisse bewältigt hat.
Bei seinem Aufenthalt am Reichskammergericht in Wetzlar lernt
der junge Goethe 1772 die anmutige und lebensfrohe Charlotte Buff
(1753 - 1828) kennen und verliebt sich heftig in sie. Doch ist
sie bereits einem anderen Mann versprochen: Johann Christian Kestner
(1741 - 1800), einem hannoverschen Staatsbeamten. Daher verschmäht
sie die Liebe ihres Verehrers, obwohl sie von Goethes Offerten
zumindest sehr geschmeichelt ist. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr
noch nicht bewusst, dass diese Zurückweisung ihre Zukunft entscheidend
beeinflussen wird.
Goethe verläßt daraufhin fluchtartig Wetzlar und verarbeitet seine
Emotionen in seinem ersten Roman "Die Leiden des jungen Werthers".
Charlotte ist für ihn ein weibliches Idealbild: Noch in seinem
Alterswerk "Dichtung und Wahrheit" spricht er von ihr als "ein
wünschenswertes Frauenzimmer". Für den Werther-Roman hat sie ihn
zu der literarischen Figur der Lotte inspiriert. Johann Christian
Kestner verkörpert dort den nüchternen und vernunftbestimmten
Albert. Als dessen Gegenpol füngiert die leidenschaftliche Titelfigur
Werther. Diesem Charakter liegt zum Teil Goethe selbst zugrunde;
seine unerfüllte Liebe zu Charlotte spiegelt sich in Werthers
verzweifelter Hingabe an Lotte. Zudem zeichnet Werther das Schicksal
von Karl Wilhelm Jerusalem (1747 - 1772) nach, eines jungen Juristenkollegen
Goethes und Kestners in Wetzlar, der sich mitunter aus unerfüllter
Liebe zu einer verheirateten Frau erschoss. Auch "Werther" sieht
im Selbstmord den einzigen Ausweg - und wird so für eine ganze
Generation zur Identifikationsfigur neu entdeckter Emotionalität
und kompromissloser Hingabe.
Als "Die
Leiden des jungen Werthers" 1774 erscheint, wird der Roman in
kürzester Zeit zum Kultbuch einer ganzen Generation - ein Bestseller,
der eine regelrechte Werther-Begeisterung schafft und so Intellekt,
Lebensgefühl und Mode der damaligen Zeit prägt. Schon bald nach
der Veröffentlichung finden die Leser heraus, dass hinter den
literarischen Figuren reale Personen stecken. Durch die Aufdeckung
der brisanten Dreiecksbeziehung wird die echte Charlotte, seit
1773 mit Johann Christian verheiratet und in Hannover wohnend,
schlagartig berühmt. Sie muß nun mit dem unfreiwilligen Ruhm leben,
der ihr stets hilfreich und hinderlich zugleich sein wird -bleibt
sie doch für immer "Goethes Lotte".
"Goethes
Lotte" - unter diesem Titel huldigt das Historische Museum Hannover
in seinem 100jährigen Jubiläumsjahr die bedeutende Bürgerin der
Stadt mit einer großen kulturhistorischen Ausstellung. Diese wird
am Abend des 28. August, am Geburtstag Goethes und pikanterweise
auch seines Nebenbuhlers Johann Christian Kestner, eröffnet und
ist vom 29. August bis 30. November zu sehen. Mit rund 300 Exponaten
vermittelt sie einen anschaulichen Eindruck von der Person Charlotte
Kestners. Ihr Verhältnis zu Goethe im Laufe ihres Lebens wird
ebenso beleuchtet wie die Wirkung des Werther-Romans auf seine
Zeit und auf Charlottes Biographie. So präsentiert das Historische
Museum hochrangige Exponate, wie etwa den Golddukaten aus Privatbesitz,
den Goethe seinem Patenkind, Charlottes erstem Sohn, zur Taufe
schenkte. Daneben ist es der Kuratorin der Ausstellung, Frau Dr.
Ulrike
Weiß, gelungen, einzigartige, noch nie in Deutschland ausgestellte
Stücke aus London auszuleihen. Dazu zählt der Granatring, von
dem es heißt, Goethe habe ihn Charlotte zum liebevollen Andenken
geschenkt.
Ein weiterer Höhepunkt ist die Reisepistole von Charlottes Ehemann:
Diese wurde für den realen Selbstmord verwendet, der Goethe zum
Schicksal des Werther inspirierte. Museumsdirektor Dr. Thomas
Schwark: "Wir freuen uns ganz besonders darüber, dass wir die
erhaltene Reisepistole von Johann Christian Kestner zeigen können,
mit der sich Karl Wilhelm Jerusalem erschoss. Wohl kein anderes
Stück führt so plastisch vor Augen, wie eng Fiktion und Wirklichkeit
in ,Die Leiden des jungen Werthers' miteinander verwoben sind.
Hier wird Weltliteratur lebendig."
Gemälde, Graphiken, Möbel und Alltagsgegenstände lassen ein farbiges
Bild der Zeit Charlottes entstehen. Erstmals werden eine Reihe
von "Erinnerungsstücken" und persönlichen Dingen aus Charlottes
Besitz wieder zusammengeführt. Sie erlauben einen höchst privaten
Blick auf diese außergewöhnliche Frau und die Stationen ihres
bewegten Lebens. Über die umfassende Familiengeschichte hinaus
dokumentiert die Ausstellung eine überaus bewegte Epoche: Hannover
diskutierte die Aufklärung und die Französische Revolution, wurde
von französischen und preußischen Armeen besetzt und 1815 zum
Königreich erhoben. Auch für das gesellschaftliche Leben der großbürgerlichen
Kreise Hannovers lässt sich Charlotte Kestner als Zeitzeugin aufrufen.
In der Ausstellung ist eine Werther-Leseecke ebenso zu finden
wie Hörstationen, an denen Auszüge aus "Die Leiden des jungen
Werthers" vorgetragen werden. Darüber hinaus vermitteln Kostproben
aus den Briefen Goethes, Charlottes und ihres Freundeskreises
einen akustischen Eindruck jener Jahre - dies geschieht ebenfalls
in Form von Hörstationen. Zudem ist das Historische Museum stolz
darauf, nun pünktlich zu "Goethes Lotte" ein eigenes Audio-Guide-System
zur Verfügung stellen zu dürfen, mit dessen Hilfe die Besucher
sich ausgewählte Exponate individuell erschließen können. Ein
vielfältiges Veranstaltungsprogramm rundet die Ausstellung ab:
Höhepunkte sind dabei etwa das Museumstheater direkt in der Ausstellung,
"Die Lange Werther-Film-Nacht" und die kulinarischen Veranstaltungen.
Das reich bebilderte Begleitbuch vertieft in fünfzehn Aufsätzen
die Biographie Charlotte Kestners und ihrer Familie sowie Aspekte
des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der "Werther"-Zeit.
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