Rezensionen


Baden-württembergische Erinnerungsorte, herausgegeben von Reinhold Weber, Peter Steinbach, Hans-Georg Wehling im Auftrag der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg im Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2012.

Format 24 x 30 cm, 615 Seiten mit 510 Abbildungen, Ladenpreis 39,90 €, Bezug über die LZPB: 25 €, einschl. Versandkosten. ISBN 978-3-17-021739-3

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Von den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gehen nur drei unverändert auf entsprechende Gliedstaaten des Deutschen Reiches von 1871 bis 1945 zurück, nämlich Bayern, Bremen und Hamburg. Alle anderen sind unter der Regie der Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, die meisten aus Provinzen des Königreichs Preußen, das durch den alliierten Kontrollrat aufgelöst wurde, eine Aktion die eigentlich schon 1918 auf der Agenda stand, aber von den Deutschen allein nicht zu schaffen war.

Im Südwesten Deutschlands wurden Baden und Württemberg 1945 durch die Grenze zwischen der amerikanischen Besatzungszone im Norden und der französischen im Süden entlang der Autobahn (heute A 8) geteilt, Hohenzollern wurde mit Südwürttemberg vereinigt. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 war dann die Frage heftig umstritten, ob Baden und Württemberg in ihren alten Grenzen wiederhergestellt oder zu einem gemeinsamen Bundesland vereinigt werden sollten. Es gab Volksabstimmungen 1950, 1951 und 1970. In Baden votierte 1951 eine knappe Mehrheit für die Wiederherstellung des alten Landes; dazu kam es aber nicht, weil nach Landesbezirken und nicht nach alten Ländern ausgezählt wurde. Dies hat dann das Bundesverfassungsgericht 1956 beanstandet und eine neue Abstimmung, nur in Baden, angeordnet, die aber erst 1970 stattgefunden hat. Bei dieser dritten Abstimmung konnte das gemeinsame Bundesland, an das sich die Menschen inzwischen gewöhnt hatten, einen triumphalen Sieg feiern.

Offizielles Gründungsdatum von Baden-Württemberg ist aber nicht 1970, sondern die Wahl des ersten Ministerpräsidenten am 25. April 1952. Demnach begeht das Land Baden-Württemberg im Jahr 2012 seinen sechzigsten Geburtstag. Er wird mit einer Festschrift gefeiert, die noch größer und gewichtiger daherkommt als der vor zehn Jahren zum Fünfzigsten erschienene stattliche Jubiläumsband »Baden-Württemberg - Vielfalt und Stärke der Regionen«.

Das Land verfügt mit den drei Volksabstimmungen über eine Legitimation, wie sie kein anderer Gliedstaat der Bundesrepublik besitzt. Dennoch wirken die Turbulenzen der Anfänge nach. Die Geburtswehen des Landes werden zwar in der vorliegenden Festschrift keineswegs thematisiert, sie begründen aber einen Drang nach Selbstbestätigung, wie man ihn in anderen deutschen Regionen bei aller Liebe zur Heimat nicht in solcher Stärke feststellen kann.

Der Ausdruck »Erinnerungsort« ist eine Übersetzung des von Pierre Nora geprägten französischen Begriffs »Lieu de memoire«. Nora geht davon aus, dass sich das kollektive Gedächtnis von sozialen Gruppen an bestimmten Orten festmacht, etwa an der Place de la Bastille in Paris. »Lieu de memoire« wird von Nora aber nicht nur geographisch verstanden, sondern auf den Bereich der Staatssymbolik ausgedehnt. In diesem Sinne verstehen die Herausgeber des vorliegenden Bandes auch Wappen und Hymnen als »Erinnerungsorte«, ein im Deutschen sehr ungewöhnlicher Sprachgebrauch. Darüber hinausgehend enthält der Band unter seinen 51 Beiträgen auch ganz normale Aufsätze über diverse landesgeschichtliche Themen, die lesenswert sind, sich aber unter den Oberbegriff »Erinnerungsorte« beim besten Willen nicht sinnvoll einordnen lassen, z. B. Auswanderung und Einwanderung oder die Geschichte von Hörfunk und Fernsehen.

Nach den obligaten Grußworten und der ausführlichen Einleitung der Herausgeber steht am Beginn das Thema »Staatssymbole«. Darunter fallen das Landeswappen, die Landeshymnen - für Württemberg, Baden und Hohenzollern nach wie vor separat - und die alten Binnengrenzen des deutschen Südwestens. Inwiefern Grenzen, zumal vergangene Grenzen Symbolcharakter haben sollen, erschließt sich dem Leser nicht. Indessen hat die anschauliche Dokumentation der alten Binnengrenzen schon einen Wert, zeigt sie doch, welchen Fortschritt die Beseitigung dieser verzwickten Grenzverläufe durch die Bildung des gemeinsamen Bundeslandes darstellt.

Beim Wappenschild wurden seinerzeit vorliegende Entwürfe eines Allianzwappens verworfen und die staufischen Löwen gewählt. Die Bezugnahme auf ein mittelalterliches Reich von europäischer Bedeutung war zwar für ein Bundesland ein wenig zu hoch gegriffen, aber als Trost für die schwäbische Seele sinnvoll, nachdem der leidenschaftliche Einsatz für den Landesnamen »Schwaben« oder »Rheinschwaben« nicht erfolgreich war. Vom Landesnamen ist im Jubiläumsband indessen nicht die Rede. Darüber hat die »Badische Heimat« vor zehn Jahren aufgrund der Protokolle der verfassungsgebenden Landesversammlung berichtet (1/2002, S. 62 ff).

Die Auswahl der vorgestellten »Erinnerungsorte« im engeren Sinne ist weit gestreut und nach Landesteilen schön ausgewogen. Unter den betreffenden Beiträgen sind einige brillante Studien, die den Band sehr lehrreich und wertvoll machen. Da wird über Hohenasperg berichtet, die »schwäbische Bastille«, ein spannender Überblick zwischen Willkürjustiz und demokratischer Rechtspflege bis in die Gegenwart. Vorzüglich auch die Aufsätze über Tübingen und das schwäbische Geistesleben, über Meßkirch als Hochburg der Altkatholiken und des badischen Liberalismus, über Korntal und den schwäbischen Pietismus, über die frühe Industrialisierung am Oberrhein, über die Orte der Erinnerung an Matthias Erzberger, über die Straßburger Rheinbrücke, über den Aufstand in Mergentheim 1809, über Freiburg und Vorderösterreich, über Offenburg/Rastatt und die badische Revolution, über das schöne Hochtal Bernau im Schwarzwald mit dem Maler Hans Thoma und über Kloster Bebenhausen als Sitz des Landtags von Südwürttemberg-Hohenzollern.

Wichtig und notwendig sind auch die Orte der Erinnerung an die Herrschaft der Nationalsozialisten, denen viele Deutsche willig gefolgt sind und die das Land in einen Abgrund von Schuld und Zerstörung gerissen haben. Der Artikel »Von Karlsruhe nach Kislau« schildert den öffentlich vor vielen Zuschauern inszenierten Abtransport demokratischer Politi
ker im Mai 1933. Ein Erinnerungsort außerhalb der Landesgrenzen ist dann Gurs in den Pyrenäen, wohin die Juden aus Baden 1940 verschleppt wurden. Für die ausgelöschten jüdischen Gemeinden im gesamten Land steht beispielhaft die Geschichte von Laupheim in Württemberg. Die sinnlose Fortführung des Krieges 1945 auf deutschem Boden wird dargestellt an der Rückeroberung von Crailsheim durch die Wehrmacht im April 1945.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Untergang von Pforzheim durch den Fliegerangriff vom 23. Februar 1945 mit fast 20000 Todesopfern. Er wird in dem Jubiläumsband am Ende eines Artikels über das »alte Landschaftshaus« in Pforzheim knapp erwähnt. Dieses Haus aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wird als »das erste deutsche Parlamentsgebäude« bezeichnet, ein Befund, der sich in der Literatur sonst nicht findet. Die Stube, in die Markgraf Karl II. im letzten Jahrzehnt vor dem Umzug der Residenz nach Durlach 1565 gelegentlich die Vertreter der »Landschaft« einbestellt hat, als Parlament zu bezeichnen, ist schon mutig und die Einordnung der Katastrophe von 1945 als kleine Randnotiz dazu sehr eigenartig.

Als erstes Gebäude, das in Deutschland für ein Parlament errichtet wurde, gilt das »Ständehaus« in Karlsruhe von 1822. Es wird im Rahmen eines gut informierenden Beitrags über die badische Verfassung von 1818 in Wort und Bildern vorgestellt. Dass es 1944 »vollkommen zerstört« wurde, stimmt aber nicht. Das Ständehaus war zwar zum größten Teil ausgebrannt, die drei Etagen seines Mauerwerks blieben aber erhalten. Vom ehemaligen Schloss in Karlsruhe war ebenso wie vom »Neuen Schloss« in Stuttgart nach dem Krieg nicht mehr, sondern eher weniger übrig. Dass man das Ständehaus im Gegensatz zu diesen Schlössern nicht erhalten hat, ist ein bleibendes Ärgernis. Das nach langen Jahren auf dem Grundstück errichtete »Neue Ständehaus« stellt allenfalls eine gut gemeinte Karikatur dar. Die Säulen des berühmten Plenarsaals waren nach 1945 alle noch da, für den Neubau wurde nur noch eine davon in einem privaten Garten vorgefunden und als »Erinnerungsort« eingebaut.

Der Beitrag »Karlsruhe -Stadt der Demokratie und des Rechts« berichtet über das Ständehaus nochmals in Wort und Bild - eine vermeidbare Überschneidung - und hat seinen Schwerpunkt dann bei den hohen Gerichten, die diese Stadt heute zur »Residenz des Rechts« machen. Verschmäht wird eine Erinnerung an den ersten Geschichtsschreiber von Karlsruhe Johann Caspar Malsch. Der hat in seiner 1728 lateinisch veröffentlichten Stadtgeschichte eine Hymne auf Gerechtigkeit und Gewaltenteilung eingefügt und genau die Stelle am Schlossplatz, wo heute das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz hat, als Platz für ein Gerichtsgebäude besungen, wo der Markgraf ein vom Hofrat getrenntes Gericht errichten werde. Karl Wilhelm hatte aber mit Gewaltenteilung nichts im Sinn, er baute dort ein Haus zum Überwintern von Pflanzkübeln (»Badische Heimat« 1/2003, S. 128 ff.). Das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1968, das derzeit umfassend renoviert wird, darf auch als Erinnerungsort an einen Vorausdenker der Rechtsstaatlichkeit angesprochen werden, der in der amtlich verwalteten Stadtgeschichte kaum mehr eine Rolle spielt.

Mannheim, die größte Stadt des alten Baden und zuvor der Kurpfalz, wird als »Industrie-, Arbeiterund Zuwandererstadt« vorgestellt. Für Informationen über die politische und kulturelle Bedeutung von Stadt und Region müsste man auf den vor zehn Jahren erschienenen Jubiläumsband zurückgreifen. Immerhin war die Kurpfalz einst das vornehmste Territorium im deutschen Südwesten; der Kurfürst und Reichsvikar war der ranghöchste Landesherr. Bei der Volksabstimmung 1952 gab die Region den Ausschlag für das Stimmergebnis im Landesbezirk Nordbaden zugunsten des gemeinsamen Landes. Eine frühe Gemeinsamkeit von Baden und Württemberg war übrigens deren Bündnis gegen den Pfälzer Kurfürsten, ihre Niederlage bei Seckenheim 1462 und die zehn Monate gemeinsamer Gefangenschaft von Markgraf und Herzog im Heidelberger Schloss.

Der letzte Abschnitt des Jubiläumsbandes betrifft die »jüngste Zeitgeschichte«. Angesichts der »historischen Zäsur der deutschen Energiepolitik« 2011 kommt hier dem Erinnerungsort Wyhl besondere Bedeutung zu. Der Geist des Widerspruchs im Dreiländereck hat in diesem Dorf am Kaiserstuhl mit seinen 3700 Einwohnern in den 1970er Jahren den Bau eines Atomkraftwerkes verhindert. Hier im Land der Alemannen liegt eine Wurzel der grünen Bewegung, die - ebenfalls 2011 - mit Winfried Kretschmann erstmals einen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland stellen konnte. Sein Portrait
mit grüner Krawatte grüßt am Anfang dieses Jubiläumsbandes.

Wenn der Leser das fast drei Kilo schwere, drucktechnisch perfekt gestaltete Buch zur Hand nimmt, wird er noch mehr Beiträge finden, als hier im einzel

nen erwähnt werden konnten, er wird seine Freude haben an den vielen Bildern, Karten und Grafiken, und er kann sich durch die ausführlichen Literaturangaben zu jedem Artikel zum weiteren Studium anregen lassen.

Klaus P. Oesterle

2/2012
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