Der elsässische Regionalpolitiker, Journalist und Ingenieur
Bernard Wittmann (Jahrgang 1948) legt eine detaillierte, mit
vielen Quellen belegte Geschichte des Eisass der letzten 140
Jahre vor. Der Titel »Die Geschichte des Eisass - eine
Innenansicht« (Originaltitel: »Une Histoire de l’Alsace,
autrement«) weist darauf hin, dass diese Landesgeschichte
aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen wird. Der Autor vermittelt,
dass er ein militanter »Autonomist« ist, der sich
für das Recht der Elsässer auf eine eigene Kultur,
Sprache und Selbstverwaltung einsetzt.
Wittmann beschreibt, wie sowohl die französische Zentralregierung
als auch Deutschland je nach ihren Möglichkeiten versuchten,
das Eisass nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Die Auseinandersetzungen
der Bevölkerung mit der jeweiligen »Obrigkeit« wird
aufgezeichnet. Im ganzen Buch verwendet der Autor für die
Französischen Regierungen (dritte, vierte und fünfte
Republik) die Bezeichnung »Jakobiner« und bezeichnet
Frankreich als »jakobinischen Staat«, wohl wissend,
dass man dieses Epitheton mit Schreckensherrschaft, Terror und
Guillotine verbindet.
Nach einer Zusammenfassung der elsässischen Geschichte
seit dem 8. Jahrhundert vor Chr. erscheint das erste Kapitel
der vorliegenden Arbeit: »Das Eisass kehrt zum Deutschen
Reich zurück«. Der rechtsrheinische Leser, der das
Bismarcksche Kaiserreich nicht unbedingt für die großartigste
Erfindung hält, zuckt zusammen. Man erfährt, dass zwar
15% der Bevölkerung nach 1871 das Land verlassen mussten,
die meisten anderen aber »ein neues, goldenes Zeitalter« erlebten.
1913/14 waren französische Nationalisten so beunruhigt, »dass
sie in einem erneuten deutschfranzösischen Krieg die letzte
Möglichkeit zu sehen begannen, die einstige Ostprovinz für
Frankreich zurückzugewinnen«.
Das Buch zeigt, wie nach den fehlgeschlagenen Versuchen in den
Jahren 1918/19, einen selbständigen Elsass-Lothringischen
Staat zu schaffen, die Bevölkerung im Eisass in zwei Lager
gespalten wurde. Da waren zum einen die »Assimilationisten«,
die versuchten, sich mit der französischen Zentralregierung
zu arrangieren. Frankreich strebte auch in Elsass-Lothringen
eine Trennung von Staat und Kirche an und versuchte Sonderrechte
der Region zu beschneiden. Auf der anderen Seite gab es die heimattreuen »Autonomisten«,
angeführt von den klerikalen Parteien, den Kirchen und den
Kommunisten. Sie wollten eine weitgehende Autonomie ihres Landes.
Die Kommunisten wurden daraufhin von den Sozialisten der SFIO
als »Herz- Jesu-Kommunisten« lächerlich gemacht.
Während der Zwischenkriegszeit entwickelte sich ein Teil
der »Autonomisten« und »Heimatrechtler« zu
einer stark vom Nationalsozialismus beeinflussten Bewegung, die über
den Einmarsch der Hitlerarmee nicht ganz unglücklich war.
Der deutsche Überfall auf die neutralen Staaten Niederlande,
Belgien, Luxemburg und Frankreichs Niederlage wird folgendermaßen
thematisiert: »Die Umgehung der Maginot-Linie durch die
deutschen Soldaten bewirkte überraschend schnell den völligen
Zusammenbruch der französischen Streitkräfte.«
Dass die »Jakobiner« in Paris eine Gruppe von au-
tonomistischen Elsässern vor der Besetzung durch die Deutschen
in »Nanzig« (Nancy) in ein Internierungslager steckten,
wird als große Ungerechtigkeit gesehen. Diese »Nanziger« wurden
aber nach ihrer Befreiung durch die Wehrmacht mit leitenden Posten
entschädigt.
Elsässer in einflussreichen Positionen versuchten, die
Schrecken der Jahre nach 1940 zu mildern, und retteten durch
Gespräche mit Leuten wie Staatsminister Otto Meißner
in Berlin oder Gauleiter Robert Wagner vielen ihrer Landsleute
das Leben. Im Kapitel »Germanisierung und Entwelschung:
Die Bilder gleichen sich« werden die Verfehlungen der »französischen
Jakobiner« und die der deutschen Nazis einander gegenübergestellt.
Es handelt sich um eine Relativierung der Nazi-Herrschaft.
In der Betrachtung der Zeit nach 1945 wird auf die »Epuration« (Entnazifizierung)
Bezug genommen. Ausführlich werden die Gräuel und die
Brutalitäten im »Strafzentrum Struthof« und
im Lager Schirmeck beschrieben. »Die Personen, die Uniformen
und die Sprache wechselten; der Geist, die Methoden des Konzentrationslagers
blieben«. So der Chronist.
Der Rezensent bedauert, dass die Geschichte des KZ Natzweiler-Struthof
für die Zeit vor 1945 nicht ausführlicher dokumentiert
wurde und verweist auf die Forschungsarbeit von Professor Robert
Steegmann aus Straßburg.
Die »Autonomisten« bemühten sich nach dem Zweiten
Weltkrieg vor allem darum, im Eisass und in Lothringen die Deutsche
Sprache und das Elsäs- serditsch zu bewahren, eine zweisprachige
Region zu schaffen und die Kultur von Elsass-Lothringen zu retten,
was vom »Jakobinischen Staat« Frankreich mit allen
Mitteln zu verhindern versucht wurde.
Zum Schluss gibt das Buch einen Einblick in die Entwicklung
der Parteien und Organisationen im Eisass in den letzten Jahren.
Der Autor verschweigt auch nicht die Erfolge des Front National
von Jean- Marie le Pen.
»Die Geschichte des Eisass - Eine Innenansicht« ist
ein lesenswertes und aufschlussreiches Werk. Man lernt, das Eisass
mit anderen Augen zu sehen.
Otto E. Hofmann
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