Horst
Ferdinand: Carl Neinhaus (1888-1965). Aspekte einer umstrittenen
Biographie. St. Augustin, 2002, Selbstverlag, 194 Seiten,
broschiert, Euro 17,80. ISBN 3-00-009365-6.
Nachdem
seit Jahren das Fehlen einer umfassenden Biographie des
früheren Heidelberger Oberbürgermeisters Dr. Carl Neinhaus
(OB von 1929 bis 1945 und von 1952 bis 1958) konstatiert
wurde, liegt nun eine solche aus der Feder von Horst Ferdinand
vor. Der Verfasser, gebürtiger Badener und mit der Geschichte
des Landes im 20. Jahrhundert bestens vertraut, ist korrespondierendes
Mitglied der "Kommission für geschichtliche Landeskunde
in Baden-Württemberg" und Autor zahlreicher Beiträge in
den "Badischen" und "Baden-Württembergischen Biographien".
Für sein vorliegendes Neinhaus-Buch wertete Ferdinand zahlreiche
bisher nicht benutzte Quellen aus, z. B. den persönlichen
Nachlass von Neinhaus sowie die Unterlagen zur Entstehung
des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg vor 50 Jahren,
bei der Neinhaus zunächst als Präsident der Verfassunggebenden
Versammlung und dann als Landtagspräsident eine Schlüsselrolle
zufiel. Ferdinand lässt die Quellen und Fakten sprechen
und berichtet durchgehend sachlich über das Lebenswerk von
Neinhaus, das schwierig zu bewerten ist. In einem einleitenden
Kapitel "Scherbengericht" bezieht sich Ferdinand auf die
aktuelle Neinhaus-Bewertung von Vertretern des "Heidelberger
Geschichtsvereins", die Neinhaus vor allem vorwerfen:
- Anpassung an die jeweiligen politischen Verhältnisse,
- Seine Rolle
bei der Verfolgung und Entrechtung der jüdischen Bürger
Heidelbergs, - Seinen reibungslosen Systemwechsel 1933 und
den Eintritt in die NS-Partei, der Vorbildfunktion für viele
Bürgerliche der Stadt hatte. Anlässlich des 50. Jahrestages
der Übergabe Heidelbergs an die Amerikaner kam es in der
RNZ zu einer Diskussion, ob man Retter der Stadt mit Straßennamen
ehren solle, was die Kritiker im Falle Neinhaus vehement
ablehnten. Liest man die zitierten Passagen vorurteilslos,
kann man sich nur wundern über die dabei verwendeten Argumente
und die Wortwahl: Ausdrücke wie "dieser vornehme Herr",
der "honorable Herr Neinhaus" sprechen nicht gerade für
historische Objektivität. U. a. wollten die Kritiker das
persönliche Risiko bei Kontaktnahme mit dem Feind nicht
einsehen - dabei hatte Frank Moraw selbst in der RNZ vom
24. 3. 1995 über fliegende Standgerichte und Exekutionen
in solchen Fällen berichtet. Dieser Einführung folgt ein
kurzer Überblick über die Jugend Neinhaus'. Er entstammte
einem evangelischen Pfarrhaus. Sein Familien- und Bildungshintergrund
war preußisch-konservativ, für ihn waren die preußischen
Tugenden wie Pflichtbe-wusstsein, Ordnung usw. zeit seines
Lebens verbindliche Richtschnur. Mit diesem Werdegang erklären
sich Neinhaus' paternalistische Ordnungsvorstellungen, die
damals üblich waren. Die grundlegende Wandlung hin zur parlamentarischen
Demokratie erfolgte bei Neinhaus nach 1945, ob aus Opportunismus
oder aus seinen Erfahrungen von 1933-1945, wird sich nicht
genau klären lassen. Seine berufliche Ausbildung nach dem
Jura-Studium war begleitet von hervorragenden Beurteilungen,
die er bei seiner Bewerbung um die OB-Stelle in Heidelberg
vorlegen konnte. Er wurde mit 93 gegen 12 Stimmen zum OB
Heidelbergs gewählt - angetreten waren 70 Kandidaten. Die
Amtszeit von Neinhaus fiel in die schlimmen Krisenjahre
der Weimarer Republik. Trotz rigoroser Sparmaßnahmen konnte
sich die Bilanz seiner Tätigkeit sehen lassen. Ob er nach
der Machtübernahme tatsächlich von der Bevölkerung zur Weiterführung
seines Amtes gedrängt wurde oder ob er sein Amt retten wollte,
bleibt unklar. Er trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein,
bat aber bereits zwei Wochen Später Reichsstatthalter Robert
Wagner um Beurlaubung, die dieser ablehnte. Dass die Gemeindeordnung
von 1935 Neinhaus' autokratischer Auffassung vom Amt des
Bürgermeisters entgegen kam, war aufgrund seines gesellschaftlichen
Hintergrundes selbstverständlich. Die Rivalität zwischen
OB Neinhaus und Kreisleiter Wilhelm Seiler sollte die folgenden
Jahre bestimmen. Der OB wollte die Interessen der Stadt
gegen die politischen Ansprüche der Partei verteidigen.
Dabei war Neinhaus als Persönlichkeit sowie an Bildung und
Fachkenntnis dem Kreisleiter haushoch überlegen. Dass die
Berufung anerkannter Fachleute für die Leitung des Kurpfälzischen
Museums und des Archivs ohne Seilers Placet durchging, war
immerhin erstaunlich. In all jenen Jahren hielt Neinhaus
engen Kontakt z. B. mit Dr. Richard Benz, Dr. Fritz Henn
und anderen Persönlichkeiten in der Stadt, die alles andere
als Nazis waren. Überhaupt herrschte bei alteingesessenen
Heidelbergern die Meinung vor, dass Neinhaus kein Nazi war,
wie der Vf. dieser Zeilen persönlich in den Jahren 1953
bis 1962 erfahren konnte. In der Kontroverse Neinhaus contra
Goebbels um die Ernennung von GMD K. Overhoff spielen die
Nein-haus-Kritiker den Vorfall herunter, während Ferdinand
zurecht auf das "enorme propagandistische Potential der
Musik" (Kater) in jenen Tagen hinweist. In dem Kapitel "Neinhaus
und die Heidelberger Juden" moniert Ferdinand, dass Moraw
sich in seinen Texten vor allem auf den Spruchkammerbescheid
der 1. Instanz beruft, anstatt die 2. Instanz und ihre Begründungen
heranzuziehen. Moraw erreicht dadurch eine bewusste Minimierung
des Einsatzes von Neinhaus für Verfolgte. Die Aktivitäten
von Dr. Paul Hirsch, einem Heidelberger Juden, der nach
der Verhaftung Neinhaus' durch die Amerikaner unermüdlich
Unterschriften für dessen Freilassung sammelte und tatsächlich
sein Ziel nach 13 Tagen erreichte, spielen für Moraw keine
Rolle. Aufgrund der von Ferdinand angeführten Quellen lässt
sich Moraws Behauptung, Neinhaus habe die Judenpolitik der
Partei überlassen, nicht länger aufrecht halten. Hinsichtlich
der Rettung Heidelbergs verweist Ferdinand auf die lückenlose
Quellenlage, die beweist, dass alle Fäden der Rettungsversuche
auf deutscher Seite, die Stadt vor der Zerstörung zu bewahren,
bei Neinhaus zusammenliefen. Das Todesurteil Himmlers über
Neinhaus (ein Rundfunkohrenzeuge wird genannt) sowie die
von Neinhaus sorgfältig ausgearbeiteten Karten, die Heidelberg
praktisch als einziges Lazarett zeigten und eine "getarnte
Kapitulation" (Achelis) bedeuteten, bestätigen dies. Der
eigentliche Retter Heidelbergs war zweifellos der amerikanische
General Beiderlinden. Bei ihm allein lag die "auctoritas"
und die militärische Macht, letztlich über das Schicksal
der Stadt zu entscheiden. Nach ihm eine Straße zu benennen,
stünde Heidelberg auf alle Fälle sehr wohl an. Neinhaus
leistete aber mit anderen einen ganz wesentlichen Beitrag
zur Rettung der Stadt. Wenn man die Namen der Verfasser
der von Moraw so genannten "Persilschei-ne" liest (RNZ 9./10.
3. 02), erhalten diese Gewicht: Dr. Hirsch, die Professoren
Frommel und Hoepke, Dr. Benz, 0. Erhardt, Dr. Henn, Dekan
Maas, Ph. Schellmann, Prof. Poppen. Hier setzte sich die
geistige und kulturelle Elite der Stadt für Carl Neinhaus
ein, und das wohl doch nicht nur aus reiner Gefälligkeit.
Einen gewichtigen Raum in der vorliegenden Neinhaus-Biographie
nimmt Neinhaus' Rolle in der Verfassunggebenden Versammlung
bei der Entstehung des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg
ein. Man mag es kaum glauben: Neinhaus' gewichtige Verdienste
bei der Entstehung und den sehr schwierigen Anfängen des
neuen Bundeslandes wurden von seinen Kritikern in Heidelberg
bisher nicht gewürdigt. Dabei war der Landtagspräsident
damals besonders gefordert -. Die handstreichartige Regierungsbildung
durch Reinhold Maier ohne die stärkste Fraktion der CDU,
die Streitpunkte Konfessions- oder Simultanschule, der erbitterte
Widerstand der Altbadener sowie die schwierige Namensgebung
für das neue Land, dies alles waren leidenschaftlich umkämpfte
Diskussionspunkte. Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Dr.
Franz Hermann, urteilte: "Der Werdegang des neuen Bundeslandes
(Baden-Württemberg, d. Vf) ist mit keiner Person so unumstritten
und überzeugend verknüpft wie mit der seinen" (S. 99). Neinhaus
versah das Amt des Landtagspräsidenten von 1952 bis 1960.
Ferdinand führt die Leistungen Neinhaus' in diesem hohen
Amt sowie die Würdigungen der erbrachten Arbeit an, eine
Bilanz, die sich sehr wohl sehen lassen kann. Mit dem Großkreuz
des Bundesverdienstordens wurde Neinhaus mit der nur selten
verliehenen höchsten Stufe des Bundesverdienstkreuzes geehrt
- und nicht mit dem Großen Bundesverdienstkreuz, wie Moraw
(in NDB 19/1999) schreibt. (Liegt hier eine fehlerhafte
Recherche, Unkenntnis oder eine bewusste Herabsetzung von
Neinhaus vor?). Die Heidelberger wählten 1952 Neinhaus mit
50,94% der Stimmen erneut zu ihrem OB (bis 1958). Der schon
fast kurios zu nennende Ablauf bei den OB-Wahlen 1958 führte
zu Neinhaus' Abwahl, nachdem er zunächst nicht mehr kandidiert
hatte, dann aber im zweiten Wahlgang auf Drängen der CDU
noch einmal antrat und verlor. Neinhaus reagierte beleidigt.
Erst die Verleihung der Ehrenbürgerwürde am 23. März 1963
konnte den tief Gekränkten wieder mit "seiner" Stadt, zumindest
nach außen hin, versöhnen. Der Text der Urkunde stellt den
"besonderen Anteil" Neinhaus' an der Rettung Heidelbergs
vor der Zerstörung heraus, vermeidet aber richtigerweise
das Wort "Retter". Im Kapitel "Fazit" stellt der Verfasser
Neinhaus in den politischen Zusammenhang und das Denken
seiner Zeit: Dass Neinhaus patriotisch dachte, war damals
in Europa üblich, in Deutschland nach Versailles in besonderem
Maße. Zurecht stellt Ferdinand fest, dass man diesem Patriotismus
nicht anlasten kann, dass die Nazis ihn sich dienstbar machten
und für ihre Ziele missbrauchten. Und wenn Neinhaus-Kritiker
den "persönlichen Mut nicht ermessen können" (RNZ v. 19.
5. 1995), der zum Widerstand gegen Anordnungen eines totalitären
Regimes erforderlich war, sei ihnen die Lektüre eines Haffner-Zitats
auf S. 126 des Buches empfohlen. Ferdinand verweist ferner
darauf, dass die Treue zum Staat seit der Kaiserzeit im
Berufsbeamtentum fest verwurzelt war. Das galt auch für
die NS-Zeit. Bei Neinhaus war die Haltung bis 1936 eindeutig,
später nutzte er sie als Camouflage, um seine Ziele zum
Wohl der ihm anvertrauten Stadt durchzusetzen. R. Benz stellte
fest: "Es ist nicht auszudenken, wie wir Heidelberg aus
den Händen eines echten nationalsozialistischen Oberbürgermeisters
überkommen hätten" (S. 133). Im abschließenden Kapitel "Neinhaus'
Platz in der Zeitgeschichte des ,Dritten Reiches'" stellt
Ferdinand nochmals den Familien- und Bildungshintergrund
heraus. Die Nationalkonservativen in Deutschland, denen
Neinhaus zuzurechnen ist, hatten in ihren politischen Vorstellungen
vieles mit den Natio-nalsozialististen gemein: Versagen
der Weimarer Republik, Beseitigung der "Schmach von Versailles",
Ablehnung des westlichen Parlamentarismus, deutsche Großmachtpolitik.
Daraus erklärt sich auch die weitgehende Identifikation
mit dem NS-Regime in den Anfangsjahren (vgl. Goerdeler,
Stauffenberg). Seit 1935/36 kam es bei vielen Nationalkonservativen
zu einer zunehmenden Distanz (1936 Rücktritt Goerdelers);
das Ziel war nun, "Schlimmeres zu verhindern". Dies führte
zu einer Opposition unterhalb der Ebene offener Widersetzlichkeit
bei gelegentlichen Konzessionen, was jedoch nicht als eigentlicher
Widerstand zu bezeichnen ist. Mit seiner Neinhaus-Biographie
legt Horst Ferdinand eine Untersuchung vor, die das Lebenswerk
von Carl Neinhaus in seiner Gänze vorstellt. Dabei legt
er auch bisher unbekannte Quellen zugrunde. Er sieht Neinhaus
als "Kind seiner Zeit" und begründet daraus sein Denken,
seine politische Einstellung und sein Handeln. Neinhaus
war fachlich hochqualifiziert und repräsentierte gerne.
Seine offensichtliche Eitelkeit spielte eine wichtige Rolle
bei seinem Beharrungsvermögen im Amt. Dies zeigte auch seine
beleidigte Reaktion bei seiner Abwahl. Es ist sehr verdienstvoll,
dass Horst Ferdinand in seiner Neinhaus-Biographie die ganze
Bandbreite des Wirkens von Carl Neinhaus aufgezeigt und
mit Quellen belegt hat. Es war an der Zeit, dass die negative
Sichtweise lokaler Historiker in Heidelberg eine Korrektur
erfährt, ferner, dass Neinhaus nicht nur durch die lokale
Brille gesehen wird. Dass ein verdienter Kommunal- und Landespolitiker
seit Jahren schlecht geredet und geschrieben wird, gereicht
Heidelberg nicht unbedingt zur Ehre. Die vorliegende Arbeit
sollte zu neuen Denkanstößen hinsichtlich der Beurteilung
des Lebenswerkes von Carl Neinhaus führen.
Helmut
Joho
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