Rezensionen

 

Hans-Peter Becht (Hrsg), Millenium, Beiträge zum Jahrtausendwechsel. Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Pforzheim Band 3. Verlag Regionalkultur 2002, 96 S., 14,90 Euro.

Ist Geschichte nur Rückbesinnung? Die Herausgabe von vier Vorträgen durch den Stadtarchivleiter Dr. H. P. Becht jetzt nach zwei Jahren ist in mehrfacher Weise verdienstvoll. Der Trubel um 1999 mit seinen Bilanzen, der Diskussion, wann nun das nächste Jahrtausend begönne, die z. T. phantastischen Erwartungen haben damals einen großen historischen Zusammenhang wohl manchem schwerer gemacht als jetzt, da wir Abstand gewonnen haben.'Zudem hat das Pforzheimer Stadtarchiv vorzügliche Redner gewinnen können, deren Manuskripte den Druck wert sind.
Johannes Fried, Mediävist an der Universität Frankfurt/M., führt uns mit "Perspektiven der ersten Jahrtausendwende" in eine Zeit, die im historischen Spiegel die eigene Situation besser erkennen lässt. "Kaiserpolitik - Endzeiterwartung - Aufklärung" heißen die drei Positionen, die Fried freilich nur als seine "Schöpfung" beschreiben kann und davor warnt, Geschichtsschreibung könnte außer Daten faktengetreue Wirklichkeiten beschreiben, ist sie doch immer Produkt einer bestimmten Geistesepoche. Die Beschreibung der ersten Jahrtausendwende fasziniert dennoch nicht minder, zumal das ganze damalige Europa einbezogen wird. Natürlich prägen die ottonischen Kaiser das politische Geschehen. Aber nicht weniger sind die Menschen von kirchlichen Lehren beeinflusst, wobei die "Endzeit" durchaus nicht als Katastrophe angesehen wurde, war sie doch "die große Bewährungszeit der Frommen". Neben die Eschatologie stellt Fried seinen Begriff der "Aufklärung". Das Mittelalter sei eine Epoche der "Begegnung von logischer Rationalität und theologischer Sinnsuche". An der Logik des Aristoteles geschult, versuchten sich Gelehrte an einer "apokalyptischen Aufklärung". Sie stimulierte die Erfahrungswissenschaft der Naturbeobachtung, korrigierte "hochfliegende Spekulationen", rationalisierte Erklärungsmodelle. Der Mediävist verteidigt seine Epoche vor romantisierenden Mittelalterklischees und stellt jene Zeitenwende in einen Zusammenhang "extremer Rationalisierung".
Gerhard Fouquet, Historiker an der Kieler Universität, greift diesen Faden auf im Beitrag "Endzeiterwartungen, utopisches Denken und Jahrhunder-wenden im Spätmittelalter", wobei das römische Jubeljahr 1300 als "Teil der neuen Bußdisziplin im Zeichen des persönlichen Seelenheils am Ende der Zeiten" im Mittelpunkt steht, eine Zäsur, die das hohe vom späten Mittelalter trennt. Die Novität war der vollkommene Ablass für die Rompilger. Zudem erwartete man die "Endkaiser", nachdem 1250 der Hohenstaufe Friedrich II. gestorben war, apokalyptische Schrecksnisse, die auf dem Weg zum 16. Jahrhundert verloren gingen und Luther den "lieben jüngsten Tag", unverhofft kommend wie ein Blitz, sich herbeiwünschte.
Michael Salwitz, ebenfalls Kieler Historiker, berichtet von der Jahrhundertwende 1900/01 unter dem Titel "Heute noch Fin de siecle - was werden wir morgen sein?" Bei den Staatsfeierlichkeiten überwog das Militärische, das im 19., "im Jahrhundert der Tat", nationale Fakten geschaffen hatte wie Bis-marck, dem "Tatmenschen". Aber auch in "bürgerlichen" Ansprachen dominierte der Machtgedanke, und der Begriff "Weltmacht" schien den Weg ins neue Jahrhundert zu bestimmen, während bei den Sozialisten die Marxschen Prophetien des untergehenden Kapitalismus vorherrschten. Vereint war man - im "grenzenlosen Vertrauen auf den unaufhaltsamen technischen Fortschritt", und mit Optimismus schritt man in das neue Jahrhundert, dessen Schrecknisse man nicht ahnte.
Angela und Karlheinz Steinmüller skizzieren in einem Gang durch die futurologische Literatur ab 1789 die z. T. amüsanten Vorstellungen von der Zukunft im Jahr 2000. Die "Events" zur Jahrtausendwende sind weniger optimistisch, eher vom Zweifel getränkt, die "Computerapokalypse" stand für eine neue "Endzeit".$Die Vortragsform ist in allen Beiträgen beibehalten, und so fühlt man sich auch 2002 angesprochen, berührt und zum Nachdenken aufgefordert. Historiker können, wie Schlegel meinte, nur "rückwirkende Propheten" sein. Aber das ist schon viel.

Leonhard Müller

2/2003
   

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